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Christine Steinhoff

Ingeborg Bachmanns
Poetologie des Traumes

Im Gegensatz zu der parabolischen Traumeinkleidung in "Der Kommandant" und der Traumanalogie in der Büchnerpreisrede bringt Bachmann in "Malina" eine realistische Traumkategorie zur Anwendung: den Figurentraum. Anders als die zwischen Traum und Film oszillierenden Bildsequenzen im Hörspiel "Ein Geschäft mit Träumen" sind die Träume im Roman eindeutig dem nächtlichen Schlaf der Ich-Erzählerin zugeordnet. Bachmann schließt mit ihrer Traumverwendung in "Malina" an die seit dem 18. Jahrhundert bestehende Tradition des psychologischen Realismus an, der durch die Wiedergabe von Nachtträumen einen authentischen Einblick in das Seelenleben von Figuren zu vermitteln sucht. Die Integration der Träume in das Erzählgefüge ist indes eher ungewöhnlich. Statt sich über den gesamten Roman zu verteilen und dessen Handlungsgerüst punktuell zu durchsetzen, konzentrieren sich die Träume in einem einzigen der drei Großkapitel. Für diesen in der Forschung als "Traumkapitel" bezeichneten Teil des Romans sind die Träume schon allein vom beanspruchten Textumfang her konstitutiv. Er besteht aus einer Serie von 35 aneinandergereihten Träumen, die lediglich von acht kurzen, traumreflexiven Einschüben unterbrochen werden. Zwar ist die Verwendung von Figurenträumen einerseits traditionell. Doch ihre Ausgliederung aus einem Handlungszusammenhang ist andererseits unüblich. Diese Mischung aus Anpassung und Abweichung gegenüber überlieferten Formen reiht sich ein in das Spiel mit diversen literarischen Genres, welches den Roman kennzeichnet. Wird an einer Stelle etwa dem Muster einer Autobiographie oder eines Krimis entsprochen, werden die Erwartungen an diese Textsorten an anderer Stelle wieder gezielt durchkreuzt. In ähnlicher Weise wird mit dem Figurentraum ein bekanntes Darstellungsmittel aufgerufen, dieses aber nicht nur in vertrauter, sondern durch seine Herauslösung aus dem Romangeschehen auch in irritierend innovativer Form eingesetzt.
Da die konkrete situationelle Einbettung fehlt und unklar bleibt, zu welchem Zeitpunkt und aus welcher Lage heraus geträumt wird, haftet den Träumen bei aller psychologischen Authentizität eine gewisse Konstrukthaftigkeit an. Diese durch die Zusammenlegung der Träume bewirkte Illusionsstörung entspricht ebenfalls dem poetologischen Programm des Romans. Der Text präsentiert eine schlüssige Fiktion, unterläuft diese aber immer wieder mit Hilfe illusiondurchbrechender Verfahren. Zu diesen zählen etwa die zahlreichen Diskontinuitäten im Erzählverlauf sowie die verstreuten metafiktionalen Bemerkungen zur Romankonstruktion. Die Isolierung der Träume reiht sich in diese Gruppe fiktionsstörender Strategien ein.
Einige Erzählmomente ausgenommen, die von der zeitlich nachgeordneten Perspektive eines erzählenden Ichs zeugen, ist der Roman aus dem Hier und Jetzt eines erlebenden Ichs heraus geschildert. Die Zeit ist durchweg mit "Heute" angegeben und als Tempus wird dementsprechend überwiegend das Präsens verwendet. Während zwar durch bestimmte Ereignisfolgen, wie etwa den konsekutiven Ablauf von Reiseplanung und Reisedurchführungen, ein Voranschreiten der Zeit erkennbar ist, wird doch versucht, den Eindruck eines immerwährenden "Jetzt" zu erwecken, welches das Vergehen der Stunden und Tage weitestgehend ausblendet. In diese spezifische Form des achronischen Erzählens, welches weniger durch Rückblenden und Vorgriffe als durch ein Anhalten der Zeit im Augenblick erfolgt, fügt sich auch die situations- und damit zeitenthobene Darbietung der Träume ein. Es läßt sich nicht eindeutig feststellen, ob die Träume während der vom ersten und dritten Kapitel umfaßten Zeiträume geträumt werden oder zwischen beiden, etwa während der Abwesenheit des Geliebten Ivan. Damit trägt das Traumkapitel zu der für diesen Roman charakteristischen Verweigerung chronologischer Einordnungen bei. Auch innerhalb der Traumserie läßt sich keine progressive Abfolge erkennen; lediglich die letzten beiden Träume markieren aufgrund ihres summarischen Charakters und des Erkenntnisfortschritts, der in ihnen ausgedrückt ist, einen deutlichen Endpunkt.
Die Beziehung der Träume zu den umgebenden Kapiteln ist zum einen explikativer Natur. Auf der Wachebene präsentiert sich die Ich-Figur als hochgradig verstört. Sie leidet offensichtlich an den Folgen vergangener Erfahrungen, kann oder will sich diese aber nicht ins Gedächtnis rufen: »Ich erinnre mich nicht, erinnre mich nicht«. In den Träumen wird die Quelle der Angstsymptome näherungsweise sichtbar. Bachmann erklärt im Interview, die Träume des Ichs lieferten »die Erklärung für seine Zerstörung, für sein Schon-beinahe-Vernichtetsein«. Die Lücke in der Erinnerung der Erzählerin wird indes nicht vollständig geschlossen. Weder die Träume noch die Gespräche über die Träume erlauben eine sichere Aussage darüber, was dem Ich konkret widerfahren ist. Die Alpträume weisen die Erzählerin jedoch als Traumatisierte aus und erklären mithin deren psychischen Zustand. Zudem zeigen sie zumindest die Richtung auf, in der die Ursache für die Verstörung zu suchen ist. In ihnen ist immer wieder die gleiche Grundsituation variiert: Die Ich-Figur wird Opfer diverser Grausamkeiten eines als Vater bezeichneten Mannes. Durch ihn wird sie ihrer schriftlichen und mündlichen Ausdrucksmöglichkeiten beraubt; gefangengehalten; in von ihm festgelegte Rollen gedrängt; sexuell und intellektuell ausgebeutet; auf bestialische Weise getötet. Damit ist deutlich gemacht, daß die Traumatisierung des Ichs dem Bereich der Gewalt und Unterdrückung entstammt.
Die erklärende Funktion des Traumkapitels ist zugleich eine generalisierende. Die Erzählerin schlußfolgert aus den Träumen einen grundsätzlichen, über ihre persönlichen Erlebnisse hinausreichenden gesellschaftlichen Kriegszustand: »Es ist immer Krieg. / Hier ist immer Gewalt. / Hier ist immer Kampf. / Es ist der ewige Krieg.« Der Grund für die Leiden des Ichs wird mit diesem prinzipiellen Fazit auf eine überindividuelle Ebene gehoben. Die Existenzbedingungen der Erzählerin gewinnen dadurch paradigmatischen Charakter. Die Aussonderung der Träume aus dem unmittelbaren Lebenszusammenhang stützt diese verallgemeinernde Aussageabsicht. [1]

 
Christine Steinhoff - Ingeborg Bachmanns Poetologie des Traumes
 
Verlag
Königshausen & Neumann
Epistemata
Literaturwissenschaft Bd. 645
Würzburg 2008
 
239 Seiten broschiert
ISBN 978-3-8260-3862-4
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
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[1] Aus dem V. Kapitel: "Erratische Monologe in der Nacht. Das Traumkapitel in »Malina«" - Ein "Traumkapitel". Einbindung in
  den Roman, in: Christine Steinhoff: Ingeborg Bachmanns Poetologie des Traumes.
  Verlag Königshausen & Neumann (= Epistemata Literaturwissenschaft Bd. 645), Würzburg 2008, S. 112-114ff.
  Ich danke der Autorin und dem © Verlag Königshausen & Neumann für die freundliche Genehmigung zur Publikation.
    © Ricarda Berg, erstellt: Oktober 2009, letzte Änderung: 27.02.2024
http://www.ingeborg-bachmann-forum.de - E-Mail: Ricarda Berg