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Sigrid Weigel

Ingeborg Bachmann

Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses
Nach Erscheinen ihres ersten Romans im Frühjahr 1971 hat Ingeborg Bachmann »Malina« bekanntlich als Ouvertüre für "dieses noch nicht geschriebene Buch »Todesarten«" bezeichnet. Im gleichen Interview heißt es aber auch, sie habe "ja fast 1000 Seiten vor diesem Buch geschrieben, und diese letzten 400 Seiten aus den allerletzten Jahren sind dann erst der Anfang geworden, der mir immer gefehlt hat".




Paul Zsolnay Verlag
Wien 1999
608 Seiten
ISBN 3-552-04927-4
Zwischen noch-nicht-geschriebenen und schon-geschriebenen »Todesarten« schwankend, bezeichnet dieser Kommentar genau jenen uneindeutigen Status, der dem Konvolut hinterlassener Prosafragmente, Romanentwürfe und Erzählansätze zukommt, an denen die Autorin seit etwa 1963/64 gearbeitet hat. Das Gesicht, das diese Entwürfe bei einer posthumen Publikation erhalten, ist damit nicht allein von den in jüngster Zeit ohnehin immer hitziger debatierten editorischen Grundsätzen (Bearbeitungsabstinenz versus Vervollständigung) abhängig. Darüber hinaus geht es hier speziell um die Frage des Umgangs mit Hinterlassenschaften, die, als geplante Fortsetzung des ersten publizierten Romans deklariert, doch zugleich deren Vorarbeit darstellen. Von einer 'Fortsetzung', die fertig sei, an der aber noch viel korrigiert und umgeschrieben werden müsse, hat Bachmann selbst Ende 1971 gesprochen und im folgenden gegenüber der Öffentlichkeit an dieser Version festgehalten. Das belegt noch ihre Erklärung im Mai 1973: "Für die nächsten zwei Bände weiß ich schon, wie es ›weitergehen wird‹, weil ich sie schon geschrieben habe, und zwar vor dem ersten Band." Daß in der Zeit zwischen den beiden zitierten Erklärungen offensichtlich aber keine Weiterarbeit an den »Todesarten« im Sinne einer Um- oder Fortschreibung des Vorliegenden stattgefunden hat, deutet zugleich auf den nicht ganz klärbaren Status dieser Version. Tatsächlich war der Abbruch vorausgegangener Manuskripte und der damit je verbundene Übergang oder Wechsel zu einem anderen Projekt ja stets mit konzeptionellen Problemen oder einem Ungenügen an der eigenen Schreibweise verknüpft - und deren Bearbeitung stand noch aus. Wenn man Bachmanns Hinweis auf das 'noch nicht geschriebene Buch' ernst nimmt, dann bezeichnet der Titel »Todesarten« eine Leerstelle, die durch »Malina« und die 1000 Seiten Fragmente umschrieben wird.
Jede Edition ihres Nachlasses steht somit vor der Herausforderung, mit dem uneindeutigen Autorkommentar zum überlieferten Textmaterial - zwischen ›fertig‹ und ›noch-umzuarbeiten‹ - umzugehen. In jedem Fall gilt es, ein work in progress zu würdigen, ohne die offenen Probleme, für die die Autorin selbst (noch?) keine Darstellungsform gefunden hatte, durch eigene ›Lösungen‹ zu schließen.
Die Herausgeberinnen der vierbändigen Werkausgabe 1978, die bald nach der ersten Sichtung des Nachlasses konzipert wurde, entschieden sich dafür, den publizierten Roman durch die beiden am weitesten gediehenen Romanmanuskripte zu ergänzen, den Franza-Roman und den Fanny-Goldmann-Roman, um die literarische Bedeutung des gesamten »Todesarten«-Plans deutlich zu machen [1]. Dadurch entstand in der Rezeption die Vorstellung, die drei Romane bildeten den (nicht fertiggestellten) »Todesarten-Zyklus«. In Opposition zu dieser Ausgabe hat sich das voluminöse Vorhaben einer kritischen Edition des »Todesarten-Projekts« (1995) dagegen das ehrgeizige Ziel gesetzt, dessen vollständige Entstehungsgeschichte, Bauplan und Textgenese zu rekonstruieren. Der Versuch, »dieses großangelegte Projekt erzählender Prosa [...] in seiner überlieferten unvollendeten Form« [2] umfassend darzustellen, der prardoxe Versuch also, ein Archiv von unfertigen und abgebrochenen Prosafragmenten lückenlos zu dokumentieren, mußte dabei in die Übererfüllung der gesteckten Aufgabe münden. Wenn man sich dagegen an die Angabe der Autorin über die geplante Fortsetzung mit zwei Bänden hielte, müßte die entsprechenden Ausgabe auf eine editorische überarbeitete, textkritische Ausgabe von »Malina« plus zwei Roman-Fragmente hinauslaufen. Eine Alternative wäre die Edition des gesamten zugänglichen Nachlasses, eine Lösung, bei der die Entscheidung der Herausgeber, welche Texte man dem »Todesarten«-Projekt zuordnet, sich nicht mit ihrem editorischen Ehrgeiz vermischen müßte. Was aber realiter entstanden ist, ist konsequenterweise ein Zwitter: eine Teiledition des zugänglichen Teils des Nachlasses unter dem Titel der »Todesarten«. Für das Bestreben, eine möglichst umfangreiche Menge der Hinterlassenschaften zu editieren, mußte die Aufnahme der einzelnden Fragmente an die Deklaration, >Bestandteil< des Todesarten-Projekts zu sein, geknüpft werden. Insbesondere die Aufnahme der Texte aus den fünfziger Jahren, des Berlin-Essays »Ein Ort für Zufälle« und der Erzählungen »Simultan«, die Bachmann als »Seitenstücke« ihrer Arbeit an den »Todesarten«-Romanen ausdrücklich aus diesem Projekt herausgenommen und als eigenständigen Band veröffentlicht hat, und deren Subsumierung unter ein einziges Projekt dem Titel »Todesarten« lassen sich durch nichts rechtfertigen. [3]
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[1] Mit der Bezeichnung des Franza-Buchs als «unvollendeter Roman» und «Requiem für Fanny Goldmann» als «Entwürfe zu einem Roman» wurden unterschiedliche Stufen der Bearbeitung angedeutet. Anmerkung ebd.: Sigrid Weigel.
[2] Bachmann, Ingeborg, 1995: «Todesarten»-Projekt. Unter Leitung von Robert Pichl, hg. v. Monika Albrecht und Dirk Göttsche. 4 Bde. München, Zürich; TP I, S.615.
[3] Aus dem Kapitel: "Die Umwege der 'Todesarten': Vom Umgang mit Fragmenten", in: Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann.
  Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1999, S. 509-511.
  Ich danke der Autorin und dem © Paul Zsolnay Verlag, Wien für die freundliche Genehmigung zur Publikation.
    © Ricarda Berg, erstellt: Dezember 2000, letzte Änderung: 09.10.2025
http://www.ingeborg-bachmann-forum.de - E-Mail: Ricarda Berg